Tagesanbruch in Xishuangbanna
Der Wecker läutet um drei. Ich packe meinen Rucksack, setze die Stirnlampe auf und starte auf meinem Fahrrad in die Nacht. In der Dunkelheit locke ich Motten an, getrieben vom Lichthunger fliegen sie gegen meinen Kopf. Auf der Brücke über den Luosuo verschaffen mir die krummen Laternen eine kurze Pause vor ihnen und der Finsternis. Dann tauche ich in das kleine, nachtschwarze Wäldchen ein. Wo der Pfad zwischen den Bäumen beginnt, lasse ich mein Rad zurück. Auf dem gepflasterten Weg erwarten mich schon die Tausendfüßler als einen alten Bekannten. Die schwarz-weiß gebänderte Schlange sehe ich zum ersten Mal. Mein Stirnlampenlicht streift kaum ihre matte Schuppenhaut, schon ist sie wieder verschwunden, schnell und lautlos. In Gedanken begleitet sie mich die restliche Nacht. Ich hocke am Boden, beobachte die Blütenstände und notiere Temperatur, Färbung und Duftintensität, und warte. Für einen Tropenwald ist es unvermutet still. Ich schalte kurz meine Stirnlampe aus und starre in die Nacht, lausche. Kein Ton. Nach abertausenden Sekunden öffnet sich der erste Blütenstand, die Temperatur steigt und der Duft wird stärker. Die ersten Fliegen erscheinen. Ohne zu zögern, klettern sie in den Blumenkessel, beginnen sich zu paaren und legen ihre Eier ab. Ich notiere jeden ihrer Schritte. Ohne dass ich es merke, schleicht hinter meinem Rücken der fahle Saum des Morgens durch den Wald. Erst das Summen eines Moskitos verrät mir den Tagesanbruch. Als es hell wird, bleiben die Fliegen aus. Ich packe meine Sachen und lasse die Nacht hinter mir, nehme Abschied von der Waldfinsternis, erleichtert und doch schweren Herzens.