Betreff: Den Umständen entsprechend

Ein Briefwechsel mit Margit Schreiner

Donnerstag, 17:26

Liebe Margit,

wie geht es dir? Kannst du unter diesen Umständen ans Schreiben denken?

Ich habe heute wieder an meinem Text geschrieben, abgeschottet in meinem Schreibzimmer. Die Ruhe hilft sogar, ich kann mich besser auf das Schreiben konzentrieren, wenn ich weiß, dass alle anderen auch drinnen sitzen und draußen Ruhe herrscht. Sonst habe ich manchmal fast ein schlechtes Gewissen, wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, während sich andernorts das Leben abspielt.

Dabei passiert trotz der Einschränkungen auch so ständig etwas, heute zum Beispiel folgende Szene: Ich sitze gerade vor meinem Laptop und suche nach dem richtigen Begriff, da höre ich einen Schrei – einen Kinderruf, dann mehrere Stimmen auf der Straße (mein Schreibzimmer liegt straßenseitig im dritten Stock, musst du wissen). Sofort bin ich abgelenkt und schaue aus dem Fenster. Doch die Szene spielt sich außerhalb meines Sichtfelds ab, schräg unter mir muss es sein. Ich müsste das Fenster öffnen, um etwas zu sehen … aber das wäre doch arg sensationslüstern. Außerdem wäre dann die Konzentration sicher dahin. Ich will mich schon wieder meinem Text zuwenden, da tut sich etwas im zweiten Stock des Bürogebäudes gegenüber. Mehrere Personen tauchen am Fenster auf und betrachten die Szene, die sich vor ihren Augen abspielen muss. Aus ihren Mienen lässt sich nicht schließen, was passiert ist, sie wirken weder bestürzt noch belustigt. Aber alle vier, nein, jetzt sind es schon fünf – der neu Dazugekommene reibt sich umständlich die Hände wie ein Chirurg vor der Operation – alle fünf stehen am Fenster, betrachten die Szene und unterhalten sich dabei.

Ich bin irritiert. Dürfen sich denn fünf Personen gemeinsam in einem Büro aufhalten? So nah, und ohne Mundschutz. Das Gebäude gehört einer Bank – sind alle fünf Systemerhalter? Oder handeln sie den Verordnungen zuwider, wie man es von Bankern erwarten würde?

Während ich sie beäuge, merke ich, dass sich in der Fensterscheibe, hinter der die Banker stehen, die Szene auf der Straße spiegelt. Ich sehe die Reflexion der Menschen, die so einen Lärm machen. Es sind ein paar Erwachsene mit Kindern auf Laufrädern, die sich unterhalten. Sie stehen nahe beieinander, aber die Gruppe ist definitiv zu groß, um eine Wohngemeinschaft zu sein. Schon wieder der Gedanke – dürfen die das? Oder ist etwas geschehen, das ich in der Spiegelung nicht sehe und das ihre Ansammlung rechtfertigt? Warum sonst schauen die Banker so aufmerksam hin? Oder denken sie auch einfach nur „dürfen die das?“, während sie selber so fragwürdig beieinanderstehen? Jetzt müsste ich wirklich das Fenster aufmachen und nach unten schauen, damit ich herausfinde, was sich da tut. Aber würde ich das tun, würden mich die Banker gegenüber sicherlich entdecken. Das darf nicht sein, denn wenn sie in ihrer Langeweile auf mich aufmerksam werden und mich dann womöglich jeden Tag fünf Banker beim Schreiben beobachten, wäre meine Konzentration mit Sicherheit dahin.

Ich habe das Fenster schlussendlich nicht geöffnet und stattdessen versucht, weiter zu schreiben. Die Konzentration war dann aber doch futsch. Irgendwie lenkt das alles schon ab, auch wenn ich es nicht zu sehr an mich heranlassen will. Geht es dir auch so?

Liebe Grüße und bleib gesund, wie man jetzt sagt,

David

Freitag, 17:49

Lieber David,

da sieht man auf Anhieb den Unterschied zwischen Stadt und Land. Kein Banker hier, weit und breit. Schon gar nicht fünf Stück auf einmal. Hier im Waldviertel sieht man ab und zu einen einzelnen Mann auf einem einzelnen Traktor durch die Gegend tuckern. Wenn ich an meinem Schreibtisch sitze, sehe ich nur meine Katzen auf den Sesseln auf meiner Arbeitsterrasse sitzen. (Es ist dieselbe, auf der wir schon mal eine geraucht haben. Vor langer Zeit!) Sie haben entdeckt, dass es jetzt echt Frühling wird und aalen sich in der Sonne, die Faulpelze. Aber ablenken tut es auch. Genauso wie die Vögel, die offenbar außer Rand und Band geraten. Die Frage ist nur: Haben sie bemerkt, dass sich das Leben der Menschen verändert hat (mehr Stille, keine Kondensstreifen am Himmel, bessere Luft, weniger Autos?) und freuen sich jetzt, oder habe ich entdeckt, dass es Vögel gibt, die sich im Frühjahr grundsätzlich besonders ihres Lebens freuen? Du musst bedenken, dass vor meinem Arbeitszimmer eine Hasel steht und auf der Hasel sitzen die Vögel und stoßen Lockrufe aus. Ich beobachte, dass die Tauben besonders triebhaft sind.

In „Die ganze Woche“, meiner Fernsehzeitschrift, werden schon wertvolle Tipps für die Zeit der Isolation gegeben: Eine halbe Stunde häuslicher Sex verbrennt bis zu 350 Kalorien und erspart rund eine halbe Stunde Yoga, Jogging oder Zirkeltraining (Keine Ahnung, was das ist) mit außerhäuslichen sozialen Kontakten. Wir Frauen, steht dort, kommen zwischen 23 Uhr und 2 Uhr nachts am besten in Stimmung. Seltsam. Ich habe immer gedacht, gerade „Die ganze Woche“-Leser schlafen um die Zeit längst. Ja, so macht man sich seine Gedanken. Aber, was ich eigentlich sagen wollte, ist: Die Ablenkungen vom Roman sind in diesen Zeiten, egal ob Stadt oder Land, besonders groß. Gerade weil man sich so viele Gedanken über die Ablenkungen macht, die es jetzt nicht gibt. Deshalb finde ich es auch so großartig, dass du eben nicht das Fenster geöffnet und hinausgeschaut hast, was sich auf der Straße unter deiner Wohnung (die ich ja nicht kenne) tut, sondern dass du dich ganz auf deinen Roman konzentriert hast, auch wenn das letztlich nichts gebracht hat. Aber so ist nun einmal das Schriftstellerleben: Die meiste Zeit verwendet der Schriftsteller darauf, sich zu konzentrieren, was meistens nicht gelingen kann, weil ja das Leben außerhalb des Romans weitergeht. Ich bin schriftstellerisch gerade in den Jahren 1959 bis 1964. Erste Staubsauger, erste Waschmaschinen, erste Fernseher. Hast du gewusst, dass der deutsche Mann 1961 im Durchschnitt ein Mal pro Woche die Unterhose gewechselt hat, Frauen alle fünf Tage? Ihr Hemd wechselten die Männer im Durchschnitt ebenfalls ein Mal pro Woche. 15% nur alle zwei Wochen. Das muss man sich mal vorstellen. Jetzt ist mir gerade eine bahnbrechende Idee gekommen! Entschuldige mich, ich muss weiterschreiben!

Herzliche Grüße, und bleibe zuversichtlich,

Margit

PS: Was sind Laufräder?

Samstag, 16:07

Liebe Margit,

ich beneide dich um das umtriebige Vogelleben vor deinem Fenster – du weißt ja um meine Begeisterung für das Federvieh.

Du fragst dich, ob die Vögel den menschlichen Rückzug bemerkt haben und sich jetzt freuen? Man müsste sich in einen Vogel hineinversetzen können! Laut dem amerikanischen Philosophen Thomas Nagel ist das aber grundsätzlich unmöglich. Vielleicht kennst du seinem Aufsatz „Wie es ist, eine Fledermaus zu sein“? Egal ob Fledermaus oder Vogel, Nagel behauptet darin, dass ein Beobachter niemals von außen erklären kann, was ein anderes Subjekt empfindet, weil jedes Empfinden subjektiv und somit nicht objektiv beschreibbar ist. Wollte man wissen, was ein anderes Subjekt empfindet, müsste man dieses Subjekt selbst sein, was nur schwer möglich ist. Schlussendlich können wir nach Nagels Meinung nur wissen, wie es ist, wir selbst zu sein, alles andere bleibt uns verschlossen. Nun macht man als Schriftsteller aber nichts anderes, als sich ständig in jemand anderen hineinzuversetzen! Bedeutet Nagels Behauptung also, dass man als Schriftsteller unweigerlich zum Scheitern verurteilt ist? Oder dass nur autobiographische Literatur wirklich gute Literatur ist, weil sie die einzige ist, die die (eigenen) menschlichen Tiefen ergründen kann?

Um auf die Vögel zurückzukommen. Zumindest ein Vogel dürfte angesichts des menschlichen Rückzugs eine übermütige Freude empfunden haben (spekuliere ich). Gestern früh morgens ist tatsächlich eine Amsel vom Balkon in das Wohnzimmer geflogen und hat sich auf die große Topfpflanze am Fenster gesetzt! Ich war gerade dabei, meine Übungen zu machen (allerdings nicht von einer Fernsehzeitung empfohlene), die kaum Kalorien verbrennen, aber Zur Lockerung meiner verspannten Schultern beitragen. Die Amsel (es war ein Männchen, das erkennt man am schwarzen Gefieder und dem orangen Schnabel) dachte wohl, sie könnte ihr Revier um ein schönes Stück erweitern. Meine armkreisende Anwesenheit dürfte sie gründlich überrascht haben, denn bei ihrer überstürzten Flucht zurück in die Tierwelt hat sie sich auf dem Parkett erleichtert.

Ich kann mir kaum vorstellen, was du aus der Zeit der ersten Waschmaschinen schreibst (das war zwanzig Jahre vor meiner Geburt…nicht einmal so viel). Eine Unterhose pro Woche – die deutschen Männer waren ja (notgedrungen?) richtige Haudegen! Ich komme mir schon verwegen vor, wenn ich die Unterhose einen zweiten Tag anlasse. Darüber möchte ich unbedingt noch mehr erfahren – ich hoffe, du lässt dich von unserer Konversation nicht zu sehr bremsen und schreibst den Roman bald fertig!

Zizibä, wie die Meisen sagen (Amseln bevorzugen ein pok pok pok),

David

PS: Zu deiner Frage: Ein Laufrad ist ein Kinderfahrrad ohne Pedale. Es ist niedrig genug, dass die Kinderfüßchen den Boden erreichen und das Fahrrad laufend antreiben können. Hier besitzt jedes Kleinkind eines, das etwas auf sich hält.

Übrigens tragen in der Stadt auch schon die Kinder auf ihren Laufrädern Schutzmasken, obwohl diese nur im Supermarkt vorgeschrieben sind. Die Masken sind über Nacht Teil des Alltags geworden. Es ist mir unheimlich, wie schnell viele Menschen das annehmen. Ein Positives an den Masken ist, dass jetzt mehr Aufmerksamkeit auf die Augen gelenkt wird. Die können wir nun umso mehr sprechen lassen, wenn der Mund verhüllt ist.

Montag, 11:54

Lieber David,

habe gestern den ganzen Tag an meinem Roman geschrieben (Stichwort: Unterhosenwechsel) und deine Mail deshalb erst heute gelesen. Ostern ist komplett an mir vorbeigegangen. An dir auch, entnehme ich deiner Mail, weil wer, der Ostern feiert, macht schon armkreisende Bewegungen bei offenem Fenster, so dass die Amseln nur so ins Zimmer fliegen? Ja, da hast du mit Thomas Nagel ein weites Feld angeschnitten. Das heißt, nicht mit Thomas Nagel selbst (den ich gar nicht kenne), sondern mit der Frage nach der Subjektivität der Wahrnehmung und Empfindung. Einerseits bin ich ganz der Meinung des mir unbekannten Nagels: Wer kann schon wirklich wissen, was du bei den armkreisenden Bewegungen bei offenem Fenster empfindest? Mir ist aufgefallen, dass du bei eurem letzten Besuch in Gmünd (jener Sonntag, an dem wir zum letzten Mal reisen durften) auch die Arme gekreist hast. Gut, du bist verspannt, aber wie weit hängt diese Verspannung mit deinem ganzen Leben zusammen, beziehungsweise die Lösung der Spannung durch Armkreisen? Und inwieweit hat die Amsel ihrerseits gedacht (die Biologen sprechen der Tierwelt ja gerne das Denken ab), ein schöner bunter Vogel, an die Erde gebunden wie ein Kiwi, versucht zu fliegen? Das Leben ist ja voller Missverständnisse. Kaum sagt man etwas, hat ein anderer es schon missverstanden. Aber was den Schriftsteller betrifft, kann ich dich beruhigen, beziehungsweise bin ich anderer Meinung als Nagel, der ja offensichtlich gar nicht den Schriftsteller im Auge hatte, sondern die Fledermaus. Vergisst Nagel etwa die Empathie und das großartige Einfühlungsvermögen des Menschen, ohne das er längst ausgestorben wäre? Ich glaube, jeder Schriftsteller ist im Grunde genommen ein autobiographischer Schriftsteller. Nur: Die meisten geben es nicht zu. Denn wovon sollte er sonst ausgehen, als von den eigenen Wahrnehmungen und Empfindungen? Die Frage ist nur, inwieweit ist der einzelne Schriftsteller imstande, Eigenes zu relativieren, sozusagen zu metamorphosieren ohne das Andere zu vernichten? Brigitte Schwaiger, um irgendein Beispiel heranzuziehen, ist es meiner Meinung nach nicht gelungen, dir in deinen beiden Romanen, die ich kenne, schon. Was wieder andererseits das Scheitern angeht, bin ich ganz bei Thomas Bernhard. Alle, auch die größten Köpfe der Philosophie, der Wissenschaft und der Kunst, sind letztlich gescheitert. Gott sei Dank. Ich glaube nicht an geschlossene Weltbilder und das Scheitern ist ja der größte Antrieb, es wieder und wieder zu versuchen. Gott, der nie scheitert, ist tot. Da kann er noch so oft wieder auferstehen.

Ich wäre so gerne eine Fledermaus und würde kopfüber in düsteren Höhlen hängen und von verbotenen Reisen in die große weite Welt träumen!

Hier im Waldviertel sieht man tatsächlich keine Kinder mit Laufrädern und Atemmasken. Ich glaube, die spielen im Wald. Soweit sie zurzeit überhaupt das Haus verlassen dürfen. Weil auch im Wald lauern die Viren. Meine Tochter, die in Glasgow lebt, sagt, die größte Gefahr ginge in Glasgow von den Joggern aus. Sie habe, seit sie in Glasgow lebt, noch nie so viele Jogger gesehen. Sie sagt, die Menschen joggen wie wahnsinnig, seit die Fitnessstudios geschlossen sind. Und beim Joggen geraten sie außer Atem und keuchen und spucken die ganze Zeit andere, nicht joggende Passanten an. Sie sagt, am gefährlichsten sei es dieser Tage, hinter einem Jogger spazieren zu gehen. Deshalb ist sie für die Atemmaskenpflicht für Jogger.

Also die Meisen sind das mit dem Zizibä? Haben die Finken eine eigene Sprache? Kommst du im Roman weiter?

fragt dich

Deine Margit

PS: ich mache jetzt meine Feldenkraisübungen gegen die Schulterverspannung und dann schreibe ich weiter am Roman!

Dienstag, 20:35

Liebe Margit,

ich pflichte dir bei, dass das Scheitern wichtig ist. Nicht nur, dass das Scheitern wunderbar tragisch ist, es stellt oft auch die Vorbedingung für die befreiende Katharsis dar, das Eruptive und Verändernde, das doch das Salz in der Suppe des Lebens ist. Außerdem hat das Scheitern oft etwas sehr Komisches an sich, das zum Lachen animiert und Autoritäten untergräbt. Und ich meine, gerade jetzt müssen wir uns erlauben, zu scheitern, sonst werden wir bei all den Verordnungen, die zu korrektem Verhalten auffordern, noch zu Faschisten. Wir müssen uns selbst Fehler zu erlauben und auch den Politikern, die die Entscheidungen zu treffen haben. Als Demokraten müssen wir die Fehler geradezu einfordern, damit die österreichischen Politiker in ihrer vermeintlichen Perfektion („Wir haben alles früher und besser gemacht als alle anderen“) nicht zu perfekten Diktatoren mutieren.

Und so leid es mir für deine Tochter tut, müssen wir auch den Joggern und anderen Regelbrechern Fehltritte und Fehlspucker (und katarrhalisches Keuchen) zugestehen … sogar den britischen, die alles später und schlechter machen als unsere österreichischen Jogger, die schon viel früher viel weniger gespuckt haben als alle anderen Jogger und den keuchfreien Atem seit Turnvater Jahns Zeiten tadellos beherrschen.

Ich selbst leide leider übrigens unter einem Fehler, den man vermeiden sollte – dem Zwang zur Fehlervermeidung. Ich ertappe mich dabei, dass ich mich in der jetzigen Situation viel zu korrekt verhalte, anstatt einmal ordentlich über die Stränge zu schlagen. Du schreibst, du wärst gerne eine Fledermaus … was sehr passend ist, denn Fantasien sind ja mindestens so ansteckend wie Viren, die sich in Fledermäusen bekanntlich besonders wohl fühlen. Ich wäre gern ein Tukan, der sich mit seinem großen Allzweckmesserschnabel am helllichten Tropentag durch den Regenwald frisst und die schönsten Nester ausräumt. Doch vermeide ich diesen Hedonismus zurzeit und verhalte mich vernünftig und aufgeklärt, was nach Horkheimer und Adorno allerdings früher oder später in den Faschismus führt.

Andererseits, wer sich etwas verweigert, entwickelt ein Defizit, was gut ist, denn meiner Meinung nach ist nichts literarisch so produktiv wie eben ein Defizit. Nichts interessiert einen mehr als ein Held mit einem Mangel und gerade über die Defizitzeiten der Geschichte wurden mehr Bücher verfasst als man (mangels Zeit) lesen kann.

Insofern verspricht die momentane Quarantänezeit literarisch produktiv zu werden, leider auch im tragischen Sinne. Nun ja, ich will mich nicht zu tief verstricken, das Weitere hebe ich mir für eine Abhandlung über das Defizit in der Literatur auf, die, wenn ich sie nach dieser Erwähnung doch nicht schreibe, als schöne Fehlstelle in meinem Werkkatalog aufscheinen wird.

Wie du jetzt wohl vermutest, wird das Defizitäre auch in meinem nächsten Roman eine Rolle spielen. Ich schreibe daran, soweit es die Zeit zulässt. Womit wir bei den Verspannungen wären, denn neben einem manchmal stressigen Bürojob einen Roman zu schreiben, führt zu Spannungen zwischen den Schulterblättern. Da hilft nur eines. Tief einatmen und sich gehen lassen, wozu die momentane Zeit ja wie geschaffen ist…

…in diesem Sinne lasse ich dich jetzt gehen und freue mich, bald wieder von dir zu hören!

David

PS: Den Finken sagt man nach, dass sie trürr trüb trief rief sagen, wobei, wenn man die Finken selbst fragt, bekommt man von jeder der unzähligen Finken-Arten eine andere Antwort.

Mittwoch, 18:52

Lieber David,

bin gestern dermaßen gescheitert, dass ich keine einzelne Zeile am Roman weiterschreiben konnte.

Das kam so: Seit Wochen schon versuche ich, an digitalen Aperitif-Konferenzen mit meinen Freunden und Familienangehörigen aus Wien, der Lombardei und Glasgow teilzunehmen. Stichwort: Keep in contact. Die Zoomkonferenz bestand vorletztes Wochenende aus ununterbrochenem: Hörst du mich … ich seh dich nicht … du musst auf die Gruppeneinladung im Postfach gehen … dann auf den link klicken, den ich dir geschickt habe … gibt’s nicht, dass das nicht funktioniert … es funktioniert sogar bei den Politikern … du musst nur über deinen Browser einsteigen etc. Bei allen anderen hat es letztendlich geklappt, nur bei mir nicht. Jetzt muss ich zugeben, dass mir Computer und vor allem alle damit zusammenhängenden Fachausdrücke wie „Browser“ etc. fremd sind. Ich benutzte meinen PC bis jetzt als bessere Schreibmaschine und war im Großen und Ganzen stets sehr zufrieden mit seinen bzw. meinen eingeschränkten Fähigkeiten. Aber wir sind im Ausnahmezustand! Wenn man schon niemanden wirklich treffen kann, will man es wenigstens virtuell tun. Ist auch eine schöne Idee. Man hat endlich einen Beweis, dass die Freunde immer noch leben, meistens erholter ausschauen als vor der Krise und immer noch ihren Aperitif um sieben Uhr abends vor dem Abendessen einnehmen. Klappt aber bei mir nicht. Zur Vorbereitung unseres verspäteten Osteraperitifs am Dienstagabend um sieben Uhr hat mich schon vormittags ein Freund aus Wien angerufen, um mit mir zu üben. Der Freund hat, weil er selbst Apple benutzt, extra einen PC ausgeliehen, um mir bei meinen inzwischen zahllosen vergeblichen Versuchen, Zoom zu aktivieren, telefonisch helfen zu können. Umsonst! Ich bekomme in meinem Postfach den Link mit der Gruppeneinladung, und klicke auf den Link. Genau dann sollte ich über meinen Browser (ich weiß inzwischen ungefähr, was ein Browser ist) in das Gespräch einsteigen. Aber mein Browser will nicht. Die Aktion zog sich über den ganzen Vormittag hin und war so anstrengend, dass ich mich mittags ein wenig hinlegen musste.

Nachmittags, ich hatte gerade zwei Sätze meines Romans geschrieben, rief mich meine Tochter aus Glasgow an, um mir beim Einrichten von Zoom behilflich zu sein. Ich erspare dir die Schilderungen, was ich alles auf ihre Anweisung hin probiert habe. Es ist, kurz gesagt, wieder nicht gelungen. An den Roman war dann nicht mehr zu denken. Meine Nerven lagen brach. Als es dann auch noch draußen zu schneien und zu hageln begann, erlitt ich einen Heulkrampf. Auf der ganzen Welt sitzen tapfere Home-Officer an ihren Schirmen und konferieren ununterbrochen, nur ich schaffe es nicht! Alfred hat vergeblich versucht, mich zu trösten. Wenn ich so intensiv wie die letzten Tage an einem Roman arbeite, bin ich sowieso äußerst empfindlich, was jegliches Scheitern betrifft. Schließlich habe ich mich noch vor der Aperitif-Konferenz ins Bett gelegt und Nervenberuhigungstees getrunken, auf Grund derer ich dann eingeschlafen bin.

Deshalb kann ich dir heute nichts über das Komische des Scheiterns schreiben. Sogar für den Gedanken, ob Aufklärung früher oder später in den Faschismus führt, bin ich noch zu schwach. Einmal ganz abgesehen von jedem Gedanken über das Positive an Defiziten. Nicht einmal die Finken können mich trösten, weil sie sich ja doch an keine eindeutigen Sprachvorlagen halten und ich sie dann wieder nicht identifizieren kann.

Für heute alles Liebe, bis bald,

Margit

Donnerstag, 22:14

Liebe Margit,

beim Lesen der Schilderung deines technischen Debakels ist mir der Gedanke gekommen, dass dir wohl das Schlimmste passiert ist, was einer Schriftstellerin passieren kann: Das vollkommene Scheitern der Kommunikation. Niemand konnte dich hören und somit warst du zum Schweigen verurteilt. Umso beeindruckter bin ich, dass du dich zur Frustbewältigung mit Beruhigungstee begnügt hast, anstatt zu stärkeren Mitteln zu greifen.

Vielleicht tröstet dich eine Zahl, die ich vorgestern im Radio gehört habe: Zwei Millionen Menschen in Österreich besitzen kein Smartphone. Daraus lässt sich schließen, dass es viele Menschen gibt, die nicht am technischen Fortschritt teilhaben und so wie du auf Video-Aperitifs verzichten müssen. Vermutlich fühlen sich viele davon gerade einsam.

Das kommunikative Scheitern „gelingt“ in der gegenwärtigen Krise übrigens auch analog. Ein guter Freund von mir lebt eine Fernbeziehung, er ist in Österreich, sie vorübergehend in Kanada. Die beiden videofonieren regelmäßig und nutzen das Medium für gemeinsame Aktivitäten, sie kochen zum Beispiel gleichzeitig dasselbe Gericht und essen es dann zusammen zu Mittag (Kanada) beziehungsweise zu Abend (Österreich). Nun wollte er ihr per Post seine handschriftlichen Aufzeichnungen über die ohne sie verbrachte Zeit schicken, ein intimer Akt, eine greifbare Botschaft, die digital kaum dieselbe Wirkung entfalten kann. Allerdings hat ihm die Post mitgeteilt, dass aufgrund der Umstände momentan kein Versand nach Kanada möglich ist. Er konnte seine Sendung nicht abschicken.

Wenn alle Verbindungen abbrechen, gibt es aber immer noch ein Allheilmittel zur Rettung vor dem endgültigen kommunikativen Scheitern: Man schreibt an sich selbst. Tagebücher erleben ja gerade eine Renaissance, und ich finde, zu Recht. Denn wenig hilft so gut dabei, sich seiner selbst bewusst zu werden, wie das Aufschreiben der eigenen Gedanken. Zu schreiben ist eine Form, selbstwirksam zu sein, die gerade sehr nützlich ist, meine ich. Ich hoffe, dass in dieser Zeit nicht nur die Schriftsteller das Tagebuch wiederentdecken (du auch?), sondern ebenso Menschen, die sonst wenig schreiben, ich hoffe, dass sich die eine oder der andere im Kontakt mit dem Papier (oder der Tastatur) selbst spürt und im Meer der Zahlen und (Falsch-)Meldungen nach den eigenen Gedanken fischt. Die Historiker kommender Jahrzehnte würden sich über solche Aufzeichnungen vermutlich freuen.

Der kommunikative Tod … es ist eine der großen Herausforderungen, denen wir in der jetzigen Lage begegnen. Wie der Mensch stirbt, wenn die Nervenzellen keine Signale mehr senden, so gehen auch Beziehungen zugrunde, wenn man sich nicht mehr austauscht, verlieren sich Gesellschaften, wenn die öffentliche Debatte der message control unterliegt.

Ich merke es gerade in meinem Freundeskreis. Zu manchen verliert sich der Kontakt, es wird stiller, weil die adäquaten Möglichkeiten zur Beziehungspflege fehlen. Gelegentlich fühle ich mich, wie sich eine Fledermaus im Zeitalter des Insektensterbens fühlen muss – alle Tage sendet sie auf Beutejagd ihre Ultraschallwellen aus und stellt dabei fest, dass sie mit jedem Tag weniger Resonanzen empfängt. Irgendwann wird sie nur noch ihr eigenes Echo hören. Es wird ein trauriger Tag für die Fledermaus sein.

Nicht nur darum freut es mich, dass wir zwei uns in dieser Art und Weise austauschen. Lass uns weiterhin den Kontakt halten. Nicht mehr lange, dann werden wir uns hoffentlich auch wieder sehen können.

Liebe Grüße,

David

Freitag, 16:59

Lieber David,

fast hätte ich schon wieder geweint bei der Vorstellung, wie sich die Fledermaus im Zeitalter des Insektensterbens fühlt und dass sie irgendwann nur mehr ihr eigenes Echo hören wird. Sie ist ja ein besonders zartes Tier. Als ich in Italien gelebt habe, hat sich eines Abends eine der sonst sehr kompakt durch die Luft rasenden Fledermäuse in unser Schlafzimmer verirrt und ist dort an einem Fliegenfänger (sic!) hängen geblieben. Wir konnten sie nicht retten. Ihre Flügel waren so fein, dass sie bei jedem Versuch, sie von einem blöden Fliegenfänger mit Honig abzulösen, zerrissen sind.

Möglicherweise sind viele Menschen zurzeit sehr dünnhäutig. Gestern bin ich mit meiner Freundin Kirsch- und Schlehdornblüten für den Morgentee im Winter sammeln gewesen (selbstverständlich mit drei Meter Abstand!) und habe ihr dabei von meinem technischen Totalversagen und dem anschließenden Heulkrampf erzählt. Die Freundin, die an ihrem Uraltcomputer nicht einmal Downloads schafft und kein Smartphone besitzt, hat gesagt, dass sie am Tag zuvor auch ohne jedes technische Versagen lange geweint hat. Vielleicht darf ja jetzt, wo so vieles lahmliegt, auch die Traurigkeit wieder heraus, die wir sonst im Sinne der Selbstoptimierung in einem wahnwitzigen Alltag runterschlucken. Gut so! Ich finde, wir sollten alle viel mehr weinen. Ist ja eine Art Selbstreinigung, die stärkt. Weil die nächste Phase, die in diesen Zeiten auf uns zukommt, wird wohl eine Zeit verstärkter Eigenverantwortlichkeit und klarer Entscheidungen sein. Ich hatte schon zu Beginn der ganzen angeordneten Einschränkungen das Gefühl, die wirkliche Gefahr, zumindest für mich (gleich drei Risikofaktoren: Alter, frühe Lungenkrankheiten und COPD), kommt genau dann, wenn die Politik keine Anweisungen mehr gibt. Dann muss ich nämlich selbst einschätzen, wen ich wie treffe, wohin ich fahre, welchen Abstand ich halte. Weil: Das Virus wird ja nicht verschwinden, die „Ausgangssperren“ schon. Kein Mensch kann auf Dauer mit totaler sozialer Distanz leben. Und dann werde ich wohl oder übel, so wie viele andere, in die Lage kommen, mich noch einmal neu damit auseinandersetzen zu müssen, dass das Leben letztendlich tödlich ist. Und inwieweit ich mich trotzdem – immer vorläufig – schütze. Die Frage ist ja: Kann man seine Freunde besuchen, ohne sie zu küssen und zu umarmen? Oder: Kann man mit seinen Freunden essen und trinken und trotzdem Abstand halten? Oder ist dann das Essen und Trinken nur halb so lustig? Dazu muss man sicher bedenken, dass die Kultur, einander so viel zu berühren, bei uns erst vor circa dreißig Jahren entstanden ist. In anderen Ländern (Italien, Spanien, Frankreich) gibt’s die Kultur schon viel länger, in wieder anderen wie Großbritannien zum Beispiel bis heute nicht. Der Freund meiner Tochter, ein Engländer, hat erzählt, dass er seine Eltern nie geküsst hat bzw. umgekehrt sie ihn. Besonders den Vater nienienie. Er erinnert sich sogar nur an wenige Fälle, in denen ihm der Vater die Hand gegeben hat (18. Geburtstag, Studienabschluss). Trotzdem hat er ein sehr inniges Verhältnis mit seinen Eltern. Sollte vielleicht unsere Bussibussikultur in vielen Fällen nur Ablenkung davon gewesen sein, dass man sich nichts zu sagen hatte?

Tagebuch habe ich nie geschrieben. Ich habe immer schon wenig Lust gehabt, an mich selbst zu schreiben. Da halte ich die Kultur des Briefeschreibens, die ja vor der Krise fast gänzlich verschwunden ist, für die bessere Alternative. Es ist viel dynamischer, wie man ja auch bei unserem Briefwechsel, auch wenn er elektronisch abläuft, merkt. Jeder formuliert seine (eigenen) Gedanken, wird aber durch die Gedanken des anderen zu neuen (eigenen) Gedanken angeregt. Für mich eine sehr schöne Erfahrung. Ich dachte vorher gar nicht, dass mir Briefe zu schreiben abgeht.

Du gehst mir aber auch persönlich ab!

Auf bald,

Margit

Margit Schreiner und David Bröderbauer haben sich 2017 als Vortragende bzw. Teilnehmer der Leondinger Literaturakademie kennengelernt. Seitdem tauschen sie sich unter anderem über das Schreiben, das Leben und essbare Pilze aus.

Entstanden im Rahmen der Ausschreibung „keep in contact – Kultur NÖ Freihaus“