Infolge des Angriffs Russlands auf die Ukraine hat die IG Autorinnen Autoren im März 2022 einen Aufruf zu Beiträgen für eine Sammlung von Texten aller Genres gegen den Krieg gestartet.
Der Beitrag von David Bröderbauer:
Sie schlägt für dich
Aufgebrochene Wände, ganze Etagen mit herausgerissenen Fenstern, Berge von Ziegelsteinen. Plötzlich sehe ich überall in der Stadt Spuren der Zerstörung. Sie müssen schon vorher dagestanden haben, aber erst jetzt nehme ich die vielen Abrisshäuser wahr, die sich unter dem Druck der Baggerschaufeln eines nach dem anderen in Schutt verwandeln. Die Szenen ihrer Verwüstung verschmelzen in meinem Kopf mit den Bildern aus Kharkiv, Kiew, Mariupol. Es sind bekannte Bilder, sie könnten aus dem Jemen stammen, aus Äthiopien, Afghanistan oder einem anderen Kriegsschauplatz. Doch die Bilder von dort sind Bild geblieben, medial vermittelt. Das hat sich geändert. Der Krieg ist kein Bild mehr, kein Nachrichteninhalt, den ich konsumiere. Der Krieg – das Unvorstellbare – ist vorstellbar geworden, ich kann mir vorstellen, dass die Häuser in meiner Stadt einmal nicht mehr von Baggern, sondern von Panzern und Raketen in Schutt und Asche gelegt werden, dass ich selbst mit meinem Kind auf dem Arm durch zerbombte Straßenzüge laufe.
Wem die Stunde schlägt lautet der Titel eines Romans von Ernest Hemingway über den Spanischen Bürgerkrieg. Er bezieht sich auf ein Gedicht des englischen Poeten John Donne. Frage nicht, für wen die Stunde schlägt, heißt es dort in Anspielung auf das Läuten einer Begräbnisglocke – sie schlägt für dich. Die Verwüstungen in der Ukraine gehen nahe. Die Stunde schlägt für uns alle, es ist nicht mehr zu überhören.